Das Exemplar

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Kapitel 2

ARIA

Sie waren... wunderschön.

Die Tafel darunter las:

DRACO MAGNA – Exemplar 001 – Für ausgestorben erklärt

Ausgestorben?

Sie sahen nicht ausgestorben aus.

Konserviert, ja.

Aber nicht tot.

Die Flügel glitzerten vor Frost, zu detailliert, zu intakt. Sie sahen aus, als könnten sie sich jeden Moment bewegen.

Eine Stimme durchbrach die Stille.

„Sie gehörten zu den Letzten ihrer Art. Oder so dachten wir.“

Erschrocken drehte ich mich um und sah Dr. Justin neben mir stehen, der mich beobachtete.

„Es sieht so echt aus,“ flüsterte ich.

„Wir glauben daran, das zu bewahren, was wichtig ist,“ sagte er, aber sein Tonfall verriet etwas anderes—etwas Dunkleres.

......

Am nächsten Morgen überreichte er mir ein Klemmbrett.

Keine Erklärung.

Es war eine Aufforderung, ihn zu Sublevel 4 für „erweiterte Probenahmen“ zu begleiten.

„Warum schon wieder ich?“ fragte ich, während ich ihm einen Korridor entlang folgte, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Seine Augen verließen den Weg vor uns nicht.

„Ihr Fall ist... besonders. Wir wollen sicherstellen, dass alles so ist, wie es sein sollte.“

Am Ende des Flurs erreichten wir eine Stahltür ohne Schild, ohne Tastatur—nur ein leuchtender biometrischer Scanner.

Er piepte, und die Tür glitt auf.

Der Aufzug darin war ganz anders als die anderen. Dunkle Metallwände, kalt bei Berührung.

Blaue Lichter zeichneten die Ecken wie Adern nach.

Während wir hinabfuhren, bemerkte ich sie—tiefe Kratzer, die in die Wände gerissen waren. Lang, ausgefranst. Gewalttätig.

Mir wurde schlecht. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück.

„Was könnte das verursacht haben?“

Er schwieg einen Moment zu lange.

„Frühere Subjekte. Weniger kooperativ.“

Subjekte.

Mir rutschte das Herz in die Hose.

„Ich dachte, das sei ein Forschungspraktikum.“

„Das ist es,“ sagte er, so ruhig wie immer.

„Aber unsere Arbeit hat viele Schichten. Sie werden es verstehen.“

Der Aufzug ruckte und hielt an.

Die Türen öffneten sich zu einem Korridor, der in rotem Notlicht getaucht war.

Frost klebte an den Wänden.

Ein ständiges Zischen drang aus unsichtbaren Lüftungsschlitzen, umhüllte mich wie Rauch.

Der Geruch traf mich zuerst—metallisch, kalt, steril. Er erinnerte mich an das Innere eines Gefrierschranks oder den Keller eines Krankenhauses—Orte, an denen Menschen nicht verweilen sollten.

Der Frost an den Wänden glitzerte unter den roten Notlichtern und warf unheimliche Schatten, die mit jedem Blinken der Deckenpaneele pulsierten.

Ich konnte nicht anders, als zu zittern.

Das war nicht die Art von Kälte, für die man sich kleidet.

Sie kroch unter die Haut, drang in die Knochen.

Es fühlte sich... absichtlich an. Als sollte es etwas drinnen halten, oder etwas draußen.

Langsam trat ich aus dem Aufzug, darauf bedacht, nicht zu viel Lärm zu machen.

Selbst das leise Schaben meiner Schuhe auf dem gefrorenen Boden klang zu laut, zu menschlich. Als würde ich stören.

„Was ist das für ein Ort?“ flüsterte ich, nicht sicher, ob ich wirklich eine Antwort wollte.

Dr. Justins Hand legte sich auf meine Schulter—nicht grob, aber fest. Schwer, wie eine Warnung.

„Bleiben Sie dicht bei mir,“ sagte er, seine Stimme ruhig und gleichmäßig.

„Und was auch immer passiert... laufen Sie nicht weg.“

Etwas an der Art, wie er das sagte, fröstelte mich mehr als die Luft jemals könnte. Es war nicht dramatisch. Er sah nicht ängstlich aus.

Das bedeutete, dass er gesehen hatte, was passiert, wenn Leute nicht hören.

Und jetzt begann ich zu verstehen:

Das war nicht Teil des Praktikums.

Das war keine Routine.

Das war eine Schwelle.

Und ich hatte sie gerade überschritten.

Wir gingen tiefer hinein.

Glaskapseln säumten eine Seite des Korridors, dick mit Frost bedeckt.

Einige waren zu neblig, um hineinzusehen.

Andere enthüllten Silhouetten – groß, monströs. Unmenschlich.

Eine Kapsel ratterte, als wir vorbeigingen. Ich erstarrte.

„Ist es... lebendig?“

Er antwortete nicht.

Stattdessen führte er mich in einen kreisförmigen Raum, der mit Bildschirmen gefüllt war.

In der Mitte stand ein Stuhl.

Mit Gurten versehen.

Er deutete darauf.

„Bitte, setzen Sie sich. Wir werden nur ein paar Proben nehmen.“

„Von mir? Schon wieder?“

Meine Stimme zitterte, trotz meiner Bemühungen, ruhig zu bleiben.

„Ja. Sie haben außergewöhnliche biologische Marker gezeigt. Ein beispielloses Ereignis.“

Ich schluckte.

„Sie haben immer noch nicht erklärt, was mich so... besonders macht.“

Er sah mich an, als wäre ich eine Gleichung, die er noch nicht gelöst hatte.

„Sie kamen zu uns, nicht durch eine bekannte Akademie. Ihre Unterlagen tauchten erst Tage vor Ihrer Ankunft auf. Ihr Blut weist Eigenschaften auf, die wir noch nie dokumentiert haben – milde regenerative Fähigkeiten, ungewöhnliche Zellstrukturen. Sie sind nicht nur ein Praktikant, Aria. Sie sind ein Rätsel.“

Meine Hände zitterten.

„Ich will Antworten.“

Er lehnte sich leicht vor, seine Stimme wurde leise.

„Und die werden Sie bekommen. Aber zuerst müssen wir die Tests abschließen.“

Die Nadel glänzte unter dem Operationslicht.

Und da traf es mich.

Ich war nicht einfach in etwas Größeres hineingestolpert.

Ich war hierher gebracht worden.

Auserwählt.

Und das Rätsel um die rosa Milch? Es war nur der Anfang.


Die Deckenlichter summten leise, als ich das Labor betrat, ihr Schein flackerte, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie anbleiben oder ganz ausgehen sollten.

Hinter mir schloss sich die Tür mit einem sanften Zischen. In dem Moment, in dem sie sich schloss, verschwanden die Geräusche des Korridors.

Und so war ich plötzlich allein.

Blau getönte Paneele säumten die Wände, warfen ein schwaches, ungleichmäßiges Licht, das lange Schatten über den Metallboden warf.

Die Luft war kalt, scharf auf meiner Haut – zu kalt, um angenehm zu sein.

Es war nicht die Art von Kälte, die durch einen Luftzug oder schlechte Isolierung kam.

Es fühlte sich... absichtlich an.

Ich machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn.

Da traf mich der Geruch.

Zuerst schwach – etwas merkwürdig Süßes, wie überreifes Obst, das zu lange in der Sonne gelegen hatte.

Aber darunter war noch etwas anderes.

Tiefer. Wilder. Ein Duft, der nicht in einen Raum voller Maschinen und Glaswände gehörte.

Er kroch in meine Nase und setzte sich in meiner Brust fest, dick und warm und seltsam berauschend. Etwas geschah in meinem Körper.

Und dann fühlte ich es.

Nässe.

Zwischen meinen Schenkeln... Ich blieb stehen.

Meine Gedanken verschwammen, und der Raum schien für einen Moment zu kippen.

Ich blinzelte heftig, versuchte, es abzuschütteln – aber es war nicht nur in meinem Kopf.

Etwas geschah in meinem Körper.

Hitze, tief und langsam, entrollte sich an der Basis meiner Wirbelsäule.

Sie kroch meinen Rücken hinauf und setzte sich in meinem Bauch fest, scharf und unmöglich zu ignorieren.

Meine Haut wurde heiß, Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, trotz der Kälte.

Mein Atem stockte.

Meine Schenkel pressten sich instinktiv zusammen, und mein Mund fühlte sich trocken an, als hätte ich eine Handvoll Sand geschluckt.

Ich erstarrte, als die Wärme zwischen meinen Beinen sich zu etwas Unbestreitbarem vertiefte. Unmittelbar.

Die Reaktion meines Körpers ergab keinen Sinn – nicht hier.

Nicht jetzt.

Aber die Hitze wuchs nur weiter.

Und ich hatte keine Ahnung, warum.

Meine Knie zitterten.

Plötzlich.

Heiß.

Scham durchfuhr mich.

„Was… zum Teufel passiert mit mir?“

Ich flüsterte und tastete blindlings nach der Wand, um mich mit zitternden Fingern zu stützen.

Mein Atem wurde schneller.

Ich konnte fühlen, wie sich meine Sinne schärften, als hätte jemand die Lautstärke der Welt aufgedreht.

Jedes Geräusch hallte wie Donner.

Jeder Schatten schien sich zu bewegen und zu pulsieren.

Ich fühlte mich nicht mehr wie ich selbst.

Nicht vollständig.

Etwas rief mich.

Nicht mit einer Stimme, sondern mit einem Sog.

Ich zwang mich zu sprechen.

„Dr. Justin?“ rief ich, meine Stimme brach.

„Hallo?“

Nichts.

Ich drehte mich um, das Herz hämmerte – aber der Flur war versiegelt.

Die glatte, metallene Tür hinter mir war geschlossen.

Keine Lichter.

Keine Kontrollen.

Kein Ausweg.

Wann war er gegangen?

Er war direkt hinter mir gewesen.

Ich hatte ihn nie gehen hören.

Panik prickelte unter meiner Haut, aber ich schluckte sie hinunter.

Schluckte alles hinunter.

Und ging weiter.

Der Duft wurde stärker, je weiter ich ging – dicker jetzt, durchzogen von etwas Dunklerem.

Kupfer.

Blut.

Ich bog um eine Ecke und trat ins Herz des Labors.

Es war eine kreisförmige Kammer.

Still. Kalt.

Beleuchtet von einem einzigen, flackernden Scheinwerfer oben.

Und da sah ich ihn.

Mein Körper erstarrte.

Ein Mann.

Oder... etwas, das wie einer aussah.

Aufgehängt an dicken Ketten um seine Handgelenke und seinen Hals, hing sein Kopf tief. Seine Füße berührten kaum den Boden.

Er war nackt.

Getränkt in Schweiß und Blut.

Aber es war nicht nur sein Zustand, der mir den Atem raubte – es war die Art, wie er aussah.

Jeder Zentimeter von ihm war wie aus Stein gemeißelt.

Durchtrainiert, muskulös, brutal schön.

Seine Adern wölbten sich unter seiner Haut, als hielten sie kaum etwas zurück.

Ich konnte mich nicht bewegen.

„Oh mein Gott,“ flüsterte ich.

Er rührte sich.

Sein Kopf hob sich langsam, schwarzes Haar tropfte von seinem Gesicht.

Dann öffneten sich seine Augen.

Silber.

Nicht grau.

Nicht blau.

Silber.

Schwach leuchtend im Dunkeln, nicht vor Wut – sondern etwas Älterem.

Etwas Wildem.

Sein Blick fixierte sich auf meinen, und ich konnte nicht atmen.

„Du solltest nicht hier sein,“ sagte er, seine Stimme rau und heiser – und doch irgendwie... magnetisch.

Ich taumelte zurück, das Herz hämmerte.

„Wer… wer bist du? Was ist das hier?“

Er lächelte schief – bitter und gebrochen.

„Das kommt darauf an,“ sagte er.

„Bist du das Lieblingsprojekt des Doktors?“

„Was? Ich – ich bin nur ein Praktikant. Ich wusste nicht… ich wollte nicht –“

„Dann geh,“ unterbrach er mich.

„Bevor sie zurückkommen.“

„Ich kann nicht.“ Ich blickte hinter mich, auf die versiegelte Tür.

„Sie hat sich hinter mir verschlossen.“

Er atmete scharf ein.

Seine silbernen Augen leuchteten heller.

„Du veränderst dich,“ sagte er.

„Was?“ Ich blinzelte.

„Was meinst du?“

„Der Duft,“ knurrte er.

„Du riechst nach Hitze. Nach Macht. Etwas erwacht. Etwas, das nicht menschlich ist.“

Mein Magen sank.

„Nein,“ sagte ich und schüttelte den Kopf.

„Nein, ich bin menschlich.“

Er lachte.

Ein Geräusch wie gebrochener Donner.

„Ist das, was sie dir erzählt haben?“

Mein Brustkorb hob und senkte sich schneller. Ich konnte kaum noch atmen.

„Ich verstehe nicht.“

„Du wirst es verstehen,“ sagte er leise.

„Bald.“

Und Gott helfe mir – ich glaubte ihm.

Es gab keine Zweifel, dass von ihm Gefahr ausging. Aber keine Bosheit.

Nicht gegen mich.

Seine Energie war gewaltig, ja, aber sie zog mich an wie die Schwerkraft.

Wie ein Faden, der sich um meine Knochen wand.

Mein Körper schmerzte.

„Warum bist du angekettet?“ fragte ich mit unsicherer Stimme.

„Wer hat dir das angetan?“

„Die gleichen Leute, die dich betäubt haben. Die dich ihre kleinen rosa Fläschchen trinken ließen? Sie halten mich hier, weil ich nicht gehorche. Weil ich mich daran erinnere, wer sie sind.“

Mein Mund öffnete sich.

„Du weißt, was sie mir angetan haben?“

Sein Lächeln erstarb.

„Sie wecken dich Stück für Stück auf. Jeder Test. Jede Ergänzung. Du bist kein Mensch. Oder vielleicht... warst du es nie.“

Seine Stimme wurde dunkler.

„Aber jetzt fängst du an, es zu fühlen.“

Ich trat zurück zu einem nahegelegenen Tisch und klammerte mich an die Kante, als wäre sie das Einzige, was mich auf der Erde hielt.

„Nein. Das ist verrückt. Ich bin nicht wie du.“

Sein Kopf neigte sich.

„Warum kannst du dann nicht aufhören, mich anzuschauen?“ fragte er leise.

„Warum brennt dein Körper, nur weil du im selben Raum bist?“

Ich wandte den Blick ab.

Beschämt.

Aber er hatte recht.

Ich konnte nicht aufhören zu starren.

Konnte nicht aufhören, das elektrische Kribbeln unter meiner Haut zu fühlen.

Seine Stimme senkte sich, fast zärtlich.

„Sie konnten mich nicht kontrollieren. Also haben sie etwas anderes gemacht. Dich. Du bist der Schlüssel zu etwas. Ich weiß nicht, was – aber sie wissen es.“

Ich drehte mich wieder zu ihm um, mein Hals war wie zugeschnürt.

„Dann hilf mir. Sag mir, was ich bin. Was wollen sie von mir?“

Er sah mich lange und schweigend an.

Dann nickte er.

„Komm näher.“

Mein Atem stockte.

„Warum?“

„Weil es etwas gibt, das sie dir nicht sagen werden. Etwas, das nur ich dir zeigen kann.“

Jeder Nerv in mir schrie nein.

Aber meine Füße bewegten sich trotzdem.

Ein Schritt.

Noch einer.

Bis ich direkt vor ihm stand.

Die Hitze seines Körpers traf mich wie ein Ofen.

Mein Puls dröhnte in meinen Ohren.

„Gib mir deine Hand,“ sagte er.

Langsam hob ich sie.

Zitternd.

Er neigte seinen Kopf – und berührte mit seiner Stirn meine Handfläche.

Die Welt brach auf.

Blitze.

Visionen.

Feuer.

Schreie.

Flügel, die aus meinem Rücken brachen.

Blut. Ketten.

Ein Brüllen in meiner Kehle in einer Sprache, die ich nicht verstand.

Und dann – Dunkelheit.

Ich riss mich los, keuchend.

Er stöhnte.

Die Ketten klirrten über ihm.

„Was war das?“ stieß ich hervor.

„Deine Erinnerungen,“ sagte er mit heiserer Stimme.

„Oder das, was sie begraben haben.“

Meine Hände zitterten.

„Du bist wie ich. Ein Hybrid. Eine Waffe. Ein Fehler, den sie zu kontrollieren versuchten.“

Ich starrte ihn an.

„Nein. Was soll ich damit anfangen?“

Er sah mich mit etwas an, das wie Trauer aussah.

„Du musst aufwachen. Bevor sie dich benutzen, um das zu beenden, was von der Welt übrig ist.“

Dann – ein Alarm heulte auf.

Die Lichter flammten auf.

Die Türen entriegelten sich.

„Aria,“ Dr. Justins Stimme hallte durch den Raum.

„Tritt zurück vom Subjekt.“

Ich drehte mich um.

Er stand im Flur.

Wartend.

Hinter mir kam die Stimme des Mannes leise. Fest.

„Du hast eine Wahl,“ sagte er.

„Lauf zu ihnen zurück... oder befreie mich.“

Meine Finger zuckten.

Mein Herz donnerte.

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